Interview mit Erich Klemm
BRENNPUNKT: Heute vor einem Jahr befand sich das Werk Sindelfingen im Ausnahmezustand: In der Produktion drehte sich tagelang kein einziges Rädchen, die Kolleginnen und Kollegen protestierten auf Kundgebungen, Demomärschen und
Informationsveranstaltungen gegen den Abzug der C-Klasse.
Welches ist Deine nachhaltigste Erinnerung an diese Zeit? Welches Gefühl ist geblieben?
Erich Klemm: Am nachhaltigsten ist mir in Erinnerung geblieben mit welchem Nachdruck und welcher großen Wut insbesondere die Produktionskollegen auf die Entscheidung des Vorstands reagiert haben. Obwohl wir in Betriebsversammlungen und im BRENNPUNKT schon Monate vorher gewarnt hatten, dass so etwas passieren könnte, waren die Beschäftigten doch völlig vor den Kopf gestoßen, als die Entscheidung tatsächlich fiel. Dass die Reaktion der Belegschaft so heftig ausfiel, hatte auch viel damit zu tun, dass die Arbeitssituation in den Montagen über Monate durch Personalmangel sehr belastend war. Die Leute hatten außerdem in der Krise über Monate Verzicht geleistet und Durchhaltewillen gezeigt. Zum Dank wurde dann aufgrund von Spekulationen über Wechselkursrisiken die wichtige C-Klasse vom Standort abgezogen. Diese Entscheidung und die Art, wie sie vermittelt wurde, haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Das löste eine Welle der Empörung und des Zorns aus. Diese Belegschaft ist nicht beliebig geduldig. Ich habe aus diesen bewegten Tagen das Gefühl und die Erkenntnis mitgenommen, dass in dieser Belegschaft noch immer ganz viel Fähigkeit und Willen zur Solidarität und vor allem eine enorme Kraft steckt.
BRENNPUNKT: Am Ende stand ein Kompromiss: die Vereinbarung Sindelfingen 2020. Wie bewertest du ein Jahr später diese Vereinbarung?
Erich Klemm: Ich bin immer noch überzeugt, dass der Vorstand damals eine falsche Entscheidung getroffen hat. Aber: Dieser Standort, der dadurch unter die Räder zu kommen drohte, hat mit der von uns erkämpften Vereinbarung Sifi 2020 auch einen Schritt nach vorne gemacht. Durch die getroffenen Regelungen wird die Qualität der Arbeit, die hier in Sindelfingen geleistet wird, insgesamt steigen. Wir haben Zukunftsthemen - wie z.B. künftige Leichtbautechnologien - für uns gesichert, der Betriebsmittelbau wird erweitert, der SL kommt, wir sind und bleiben das Werk in dem S- und E-Klasse und ihre Varianten gebaut werden. Wir konnten das Tabuthema "Insourcing" knacken - dafür gibt es klare Zusagen. Mit Sindelfingen 2020 ist dieser Standort auf jeden Fall zukunftsfähig gemacht worden.
BRENNPUNKT: Wie weit ist die Umsetzung der damals vereinbarten Projekte? Was ist im vergangenen Jahr geschehen? Wie sehen die Perspektiven aus?
Erich Klemm: Vom Unternehmen wurden unter dem Titel 2014+ relativ zügig Teilprojekte entsprechend der vereinbarten Themen definiert. Es wurden Arbeits- und Kommunikationsstrukturen geschaffen und erste konkrete Umsetzungsschritte gemacht. Wir Betriebsräte begleiten diesen Prozess intensiv. Inzwischen wurden - wie vereinbart - 500 Produktionsbeschäftigte in die Entwicklung und die Planung versetzt. Der Shooting Brake wird hier gebaut - das hat das Unternehmen ja vor kurzem als Neuigkeit in der Presse verkündet. Tatsächlich war das Teil der Vereinbarung Sindelfingen 2020. Auch beim Teilprojekt 3 zur so genannten "Task force", die weltweit eingesetzt werden soll, sind wir sehr weit gekommen. Sobald die Details alle geregelt sind, können sich die Beschäftigten auf die Stellen bewerben.
BRENNPUNKT: Welche Entscheidungen und Ereignisse im Jahr 2010 hier im Unternehmen waren für dich? Welche Erkenntnisse hast du gewonnen?
Erich Klemm: Nach dem extremen Krisenjahr 2009 war es für alle total überraschend, wie schnell die wirtschaftliche Erholung gerade in unserem Produktsegment möglich war. Obwohl die Belegschaft dem Unternehmen in vielen Punkten sehr weit entgegen gekommen ist, hat es doch sehr lange gedauert, bis der Vorstand bereit war, bei der Arbeitszeit wieder auf "Normalbetrieb" zu stellen. So zäh, wie dieser Prozess verlief, fragte sich manch einer, ob der Vorstand die Probleme in der Mannschaft überhaupt wahrnimmt. Sehr gefreut habe ich mich darüber, dass bei der Betriebsratswahl im März die IG Metall wieder ein Rekordergebnis eingefahren hat. Und das trotz der vielen schwierigen Entscheidungen, die der Betriebsrat in den Monaten davor zu treffen hatte.
BRENNPUNKT: Was kommt im Jahr 2011 auf uns zu? Was müssen wir anpacken? Welches werden aus deiner Sicht die beherrschenden Themen im Unternehmen sein?
Erich Klemm: Wir müssen im Jahr 2011 das Leistungsbeurteilungssystem NAVI neu ordnen, weil es in der Praxis damit viele Probleme gab. Vor allem - und das ist entscheidend - hat die NAVI-Befragung gezeigt, dass das System als nicht
gerecht empfunden wird. Ende des Jahres 2011 laufen außerdem viele Regelungen aus der Zusi 2012 aus. Wir müssen mit dem Unternehmen klar kommen, wie hier weiter verfahren wird. Wir wollen außerdem weiter darauf
drängen, dass der Standort in dem technologischen Wandel, der sich abzeichnet, an der Spitze steht. Ganz naheliegend erwarten wir natürlich, dass die Beschäftigten an dem wirtschaftlichen Erfolg, den wir im Jahr 2010
erlebt haben, angemessen beteiligt werden. Diese Wertschätzung und diesen Dank hat
diese Belegschaft mehr als verdient.
BRENNPUNKT: Wie geht es mit der Leiharbeit weiter?
Erich Klemm: Ich hoffe sehr, dass entweder der Gesetzgeber oder die Tarifparteien Ordnung in das Leiharbeitsthema bringen und in allen Unternehmen dafür gesorgt wird, dass Leiharbeit begrenzt und die
Leiharbeiter nicht schlechter bezahlt werden dürfen als die Stammbelegschaften. Das dient auch dem Schutz der Stammbelegschaften.
Letzte Änderung: 14.12.2010